Claudius von Stolzmann als Wronski, Silvia Meisterle als Anna Karenina © APA/HELMUT FOHRINGER

Am gestrigen Donnerstag begann die neue Spielzeit mit der Premiere einer Produktion, die vor einem Jahr angekündigt, aber krankheitsbedingt verschoben werden musste. Aber Leo Tolstois Roman Anna Karenina, geschrieben in den 1870er Jahren, ist zeitlos. Das betont auch Amélie Niermeyer in ihrer Inszenierung, die sich stark an Armin Petras‘ oft gespielter Version orientiert, eigene Akzente einfließen lässt und sich viel Zeit für sich nimmt. Über drei Stunden. Zugegeben, das ist eine umfangreiche Vorlage. Aber der Abend hat Längen, die er nicht haben muss. Dafür verantwortlich ist auch die Ausstattung (Bühne: Stefanie Seitz, Kostüme: Christian Schmidt), die das Geschehen räumlich und zeitlich im Nirgendwo platziert: ein glatter weißer Boden, auf dem – mit und ohne Schlittschuhe – symbolisch die Ausnahme gleitet, aber die Regel sind sie, Wände mit quadratischen Gittern, die für Vorhänge, bunte Lichter oder Projektionen verwendet werden können, und Kleider, die manchmal an die 1920er Jahre, manchmal an die Gegenwart zu erinnern scheinen. Es ist nicht einfach, sich auf diese Produktion einzulassen, zumal der erste Paarlauf-Stolperer, der zwischen der sorglosen Kitty (Alma Hasun) und dem ernsthaften Lewin (Alexander Absenger), eher zufällig passiert. Dass der liebeskranke Tor Lewin in dieser Nacht zum Sozialrevolutionär wird, über das Ende der Leibeigenschaft nachdenkt und seinem Schwager Stepan Privilegien einräumt (Robert Joseph Bartle punktet als fröhlicher Hedonist, der sein Ablaufdatum kennt), wird später auffallen. Das Drama beginnt mit einer Diva-Performance. Silvia Meisterle ist sich ihrer Wirkung in der Titelrolle bewusst und genießt es, dass der fesche Graf Wronski (Claudius von Stolzmann) nur Augen für sie hat, wenn sie am Bahnhof ankommt. Es ist ein Zauber, der mehr mit dem Beharren des Verehrers gemacht wird. Ihr selbstbewusster Ehemann (Raphael von Bargen) ist zunächst leicht irritiert und erkennt erst allmählich die Gefahr für Ehe und Lebensglück. Der Ehekrieg, der um Annas Affäre beginnt und in dem Serjoschas Sohn das eigentliche Opfer ist, wird gnadenlos und in allen Eskalationsstufen geführt. Und es ist – sowohl dank der sehr direkten Übersetzung als auch des gnadenlosen Gameplays – gnadenlos modern. In der Mitte der Spielfläche ist eine Tastatur aufgebaut. Kitty kann darin stolz ihre vermeintlichen Kompositionen vorführen, Stepan kann seine Ehe mit Dasha (ganz natürlich: Alexandra Krismer) mit einer Liedeinlage reparieren, Vronsky kann sich mit Karaoke als Italos Barde ausgeben. Glück hält nicht an. Schließlich, wie sowohl Romanleser als auch Kinogänger wissen (es gibt unzählige Verfilmungen der tragischen Geschichte), kommt der Zug, der Anna erdrückt, unaufhaltsam. In Josefstadt kommt der nächste Regen. Das Leben geht weiter. Zumindest für Kitty und Lewin, deren Sohn am Ende getauft wird. Regen bringt Segen, das haben wir nicht erst in diesem trockenen Sommer gelernt. Nass sagt Kitty ihren letzten Satz: „Der ganze Tag war wirklich angenehm.“ Große Schluss-Ovationen zum Saisonstart. Und vor dem Theater eine Rückkehr zur Realität: Der Sturm ist in dieser Nacht nicht aufgetreten. „Anna Karenina“ von Amélie Niermeyer und Armin Petras nach dem Roman von Leo Tolstoi, Regie: Amélie Niermeyer, Bühnenbild: Stefanie Seitz, Kostüme: Christian Schmidt, Musik: Imre Lichtenberger Bozoki. Mit: Silvia Meisterle – Anna Karenina, Raphael von Bargen – Karenin, ihr Mann, Florian Benner/Christoph Löblich/Cornelius Bruckmann – Serjoscha, Claudius von Stolzmann – Wronski, Robert Joseph Bartl – Stepan, Annas Bruder, Alexandra Krismer, seine Frau – Das , Alma Hasun – Kitty, ihre Schwester, Alexander Absenger – Lewin, Theater in der Josefstadt, nächste Vorstellungen: 2., 10., 11., 14. September, Karten: 01/42700-300, josefstadt.org